In Herford haben im Juni 2023 sechs von 13 anwesenden Polizist*innen 34-mal auf einen unbewaffneten 19-Jährigen geschossen. Sein Name ist Bilel. Er wurde von mindestens 6 Kugeln getroffen und ist jetzt querschnittsgelähmt. All das, weil er vor einer Verkehrskontrolle geflohen ist.

Ziel der Demonstration am 15. Juli in Herford war es, das Schweigen der deutschen Behörden und das Weggucken der deutschen Bevölkerung zu diesem Fall zu durchbrechen. Alle wissen, es ist nicht das erste Mal, dass eine migrantische Person, welche verhältnismäßig kleine Regelverstöße begangen hat oder einfach psychologische Hilfe benötigte, durch Schüsse, Schläge oder andere Gewaltarten von der Polizei schwer verletzt oder getötet wurde. 
Nicht nur dadurch, dass die Polizistinnen bewaffnet waren und der 19-Jährige Bilel unbewaffnet, sondern auch dadurch, dass die Polizistinnen Teil einer riesigen staatlichen Institution sind, herrscht ein ungleiches Stärkeverhältnis. Ein Ungleichgewicht, welches den Polizistinnen ermöglicht, das Geschehene so darzustellen, dass sie keine Verantwortung für Fehlentscheidungen und Gewaltexzesse übernehmen müssen. Keiner der 13 Polizistinnen, die vor Ort waren, hatte ihreseine Bodycam eingeschaltet. Die sechs, die geschossen haben, machen bis heute keine Aussage. In den Stunden nach dem Vorfall, in denen Bilels Familie über das Geschehene im Unwissen gelassen wurde, organisierte sich die Polizei einen Anwalt, anstatt die Familie zu informieren.

Ziel der Demonstration war es außerdem, der betroffenen Familie und den Millionen von tagtäglicher rassistischer Polizeigewalt betroffenen jungen Menschen in ihrer Trauer, Verzweiflung und Wut eine Stimme zu geben. Es ging darum, die sich immer wiederholenden Erfahrungen mit Polizeigewalt öffentlich zu machen. Rassistische Polizeigewalt, das pauschale Kriminalisieren von Menschen mit Migrationshintergrund und das Vorgehen der Polizei während der Demo zeigen, wie die Polizei systematisch Gewalt ausübt. Die Gewalt zeigte sich brutal, als ohne Anlass und ohne jegliche Verhältnismäßigkeit auf Bilel geschossen wurde. Dass die Polizei an einer Überprüfung ihrer ‚Arbeit‘ nicht interessiert ist und sie öffentliche Kritik nicht zulässt sowie aktiv verhindert, zeigte sich, als 2014 bei einem anderen Fall Aufnahmen gefälscht wurden, um die Aufklärung zu verhindern und zeigte sich, als unsere Demonstration von vorneherein durch Hausbesuche, Überwachung – auch bei der Anreise – und unverhältnismäßigem Polizeiaufgebot kriminalisiert und erstickt wurde.
 
Die Berichterstattung ist einseitig und zu kritisieren, wenn sich in der öffentlichen Diskussion über die Demo nur auf die Verstöße der Demonstrantinnen fokussiert wird. Diese mag es gegeben haben, aber sie sind die Reaktion auf eine Polizei, die sich seit Jahrzehnten nicht an Regeln hält und deren Regeln, z.B. die sich zunehmend verschärfenden Polizei- und Versammlungsgesetze, selbst rassistisch und unverhältnismäßig sind. Sie sind eine Reaktion auf die Gewalt, die von der Polizei an Bilel verübt wurde, eine Reaktion auf das aggressive Gehabe der Beamtinnen vor Ort und ihr ins Lächerliche ziehen der Redebeiträge und der gesamten Demo sowie eine Reaktion auf das zur Schau stellen von polizeilichen Gewaltinstrumenten und auf die in die Demo stürmenden vermummten Polizeigruppen. Durch verzerrte und zum Teil auch einfach falsche Berichterstattung werden dann Regelverstöße der Demonstrant*innen sichtbar, während die Gewalt der Polizei systematisch unbenannt bleibt. Worum es inhaltlich geht und warum Menschen wütend sind, wird ebenfalls nicht erwähnt. Die Gewalt die von einer Institution wie der Polizei ausgeübt, gestützt und vertuscht wird, ist vielleicht für einige nicht so einfach sichtbar, aber rassifizierte Menschen spüren sie jeden Tag. Deshalb bedeutet die Polizei für sie Gefahr und niemals Sicherheit.

Schon im Vorhinein wurde klar, dass die Polizei exzessiv versuchen würde, die Demonstrantinnen zu unterdrücken. Obwohl uns als Organisatorinnen dies bekannt war, haben wir unterschätzt, wie massiv das Aufgebot sein würde. Wir hätten die Gefahr, die davon ausgeht und die Eskalationsstrategie der Polizei besser einschätzen müssen. Im Vorhinein haben wir nicht genug unternommen, um die vielen jungen, zum Teil noch minderjährigen Menschen vor Repressionen durch die Polizei zu schützen. Dies sollte in Zukunft für uns oberste Priorität haben. 

In keinem Moment hatten wir das Gefühl, dass unser Recht auf Versammlungsfreiheit in Anwesenheit der Polizei geschützt wird. Stattdessen erfahren wir das Vorgehen der Polizei vorrangig als einschüchternd und herablassend. Dies erschwert es massiv, unsere Forderungen sichtbar und hörbar zu machen. Das Polizeiaufgebot war übertrieben und erdrückend: Zwei Hundertschaften und drei BFE (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) aus NRW wurden zusammengezogen und jeweils eine Hunde- und Pferdestaffel sowie Videoüberwachung mithilfe einer eingesetzten Drohne – damit wurden die Absprachen von Seiten der Polizei nicht eingehalten. Außerdem haben Zivilpolizist*innen sowohl die Vorbereitungen vor der Demo als auch den LKW-Aufbau, welcher nicht am Startpunkt erfolgte, beobachtet. Die Versammlungsleitung wurde bereits 1,5 Stunden vor der verabredeten Zeit und an einem anderen Ort als dem verabredeten, aufgesucht. Dieses Verhalten spiegelt ihre Strategie der Kriminalisierung unserer Demo wider, die schon im Vorfeld erkennbar war.

Der Ort der ersten Kundgebung wurde bereits vor Beginn der Demo in einer einschüchternden Weise von Beamtinnen komplett eingekreist und war mit Polizeiwannen umstellt. Bei der ersten Rede, bei der geschildert wurde, was Bilel passiert ist, hielten es einige der Beamtinnen für nötig über das Gesagte zu lachen. Zu lachen (!), während die Freundinnen Bilels einen Meter von ihnen entfernt standen, trauern, Angst haben und wütend sind. Nach der Auftaktkundgebung stoppte die vermummte Polizei die Demo nach etwa 400 Metern. Nach eigener Aussage, weil Demonstrantinnen vermummt waren und Rauchböller gezündet wurden. Über eine Stunde lang wurde die ganze Versammlung, darunter einige Kinder, zahlreiche Jugendliche und Seniorinnen festgehalten. Die Polizei stellte sich direkt angrenzend an die Demonstrantinnen, sodass die Menschen noch mehr zusammengepfercht wurden und eine panische Stimmung aufkam. Es sind mehrfach Polizeigruppen in Formation in die Demonstrant*innen reingerannt, um einzelne Personen rauszuziehen, was noch mehr Panik verursachte.

Auf diese Situation schnell und richtig zu reagieren, fiel uns als Organisatorinnen schwer. Mehrheitlich wurde von den Organisatorinnen durchgesagt, den Forderungen der Polizei nachzukommen und zum Beispiel die Vermummung abzulegen. Die (Art der Umsetzung) sehen wir im Nachhinein problematisch, denn es forderte nur die Demonstrantinnen auf, ihr Verhalten zu verändern. Stattdessen hätten wir auch deutlich versuchen sollen, auf die provozierende und herablassende Polizei einzuwirken. Hier ist das größere Problem deutlich geworden, dass wir als Organisatorinnen teilweise in einem Rollenkonflikt waren. Es wurde versucht, die Bedingungen der Polizei durchzusetzen, um zu ermöglichen, dass die Demo so sicher wie möglich weitergehen kann. Angst um die Teilnehmenden bzw. vor dem massiven Polizeiaufgebot hat dabei eine Rolle gespielt. Wir haben teilweise unter Stress gehandelt und sind gegenüber Demonstrierenden zurechtweisend aufgetreten. 
Wir hätten außerdem versuchen müssen, alle Teilnehmenden im Vorhinein darüber aufzuklären, was alles an Polizeigewalt und rechtlichen Konsequenzen auf sie zukommen kann, vor allem wegen der Berichterstattung und Kriminalisierung im Vorfeld der Demo.

Die Demo wurde letztendlich vorzeitig, nach knapp 700 m (!), aufgrund der Provokationen der Polizei beendet. Selbst bei der Auflösung der Versammlung wurde der Versammlungsleitung immer wieder ins Wort geredet und keine Möglichkeit gegeben, die Situation aufzuklären. Noch Stunden später nahm die Polizei rund 10 Menschen fest, nachdem sie zusammen mit vielen anderen, darunter Minderjährigen, über 5 Stunden hinweg (!) gekesselt wurden. Zudem wurden die Ordnerinnen von den Cops mehrfach geschubst, teilweise auch geschlagen und nicht ernst genommen. Am Rande der Demonstration wurde außerdem massiv gefilmt, unter anderem von Querdenkerinnen aus Herford.
Es gab in jedem Fall einiges, was vonseiten der Organisation besser hätte laufen können. Wenn es weitere konstruktive Kritik von Demo-Teilnehmenden gibt, sind wir dankbar, wenn ihr uns schreibt!

Wir fordern alle auf, auch weiterhin die Aufklärung des Falls von Bilel nicht aus den Augen zu verlieren. Die 34 Schüsse dürfen nicht ohne Konsequenzen bleiben. Es war während der Demo nur eine kurze Zeit möglich, unsere Forderungen für Gerechtigkeit und Aufklärung anzubringen. Wir danken allen, die das gemeinsam probiert haben! Trotzdem müssen wir laut bleiben und Fragen stellen, bis wir eine Antwort haben und Veränderungen sehen:

Warum schweigt die Polizei? Warum schalten die Beamt*innen ihre Bodycams nicht ein, in einer Situation, in der sie sich dazu entscheiden auf einen unbewaffneten jungen Menschen zu schießen? Warum blieben die Fahrzeugkameras gerade während der Verfolgung ausgeschaltet? Warum gibt es nach so vielen solcher Fälle wie in Herford, Dortmund oder Paris, keine unabhängigen Aufklärungsstellen, vor der die Polizei ihr Verhalten verantworten muss? Und warum wird einer Demonstration, die Kritik an all dem übt, mit Einschüchterung und Eskalation durch ein massives Polizeiaufgebot begegnet?

Das sind die unangenehmen Fragen, die vor allem die Presse stellen sollte, um Druck auf die Ermittlungen auszuüben. Wir haben jedoch im Vorhinein und auch nach der Demo gesehen, dass sie genau das nicht tut – sondern in ihren Berichten den Fokus weg von der Aufklärung schiebt und stattdessen rassistische Stereotype reproduziert oder schlichtweg die Perspektive der Polizei übernimmt! Auch auf die Polizei, die in dem Fall wie in so vielen anderen Fällen, in ihren eigenen Reihen ermittelt, können wir uns nicht verlassen. 

Daher müssen wir selbst aktiv bleiben! Sprecht uns an, wenn ihr dabei unterstützen wollt.

Solidaritätskreis Bilel Herford